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Württembergischer Kunstverein Stuttgart im Kunstgebäude


Schloßplatz 2
70173 Stuttgart
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Öffnungszeiten:

Di-So 11.00-18.00 Uhr
Mi 11.00-20.00 Uhr

Ein Loch im Meer

21.05.2016 - 21.08.2016

Es ist als ob das Meer nicht nur der Archetypus aller glatten Räume gewesen ist, sondern der erste dieser Räume, der eine Einkerbung erdulden musste, die ihn in zu nehmendem Maße unterwarf und ... mit Rastern überzog ... Der glatte Raum ist zuerst auf dem Meer gezähmt worden, auf dem Meer hat man ein Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung gefunden ... (Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus)
Vom 21. Mai bis zum 21. August 2016 zeigt der Württembergische Kunstverein die Ausstellung Ein Loch im Meer. Der Titel verweist auf eine Intervention des britischen Konze ptkünstlers Barry Flanagan , der 1969 für Gerry Schums Fernsehgalerie (Sendung Landart) ein Loch im Meer schuf. Bei Ebbe platzierte er einen Plexig laszylinder im Watt, den er bei steigender Flut von oben filmte. Für einen kurzen Moment entstand so ein Loch im Meer – bis es sich in den Strömungen der Wassermassen wieder verlor.
Von diesem flüchtigen paradoxen Bild ausgehend – der formalen Durchdringung von zwei so schwer fassbaren Dingen wie Loch und Meer, die beide eine gewisse Negativität, Absenz, das Ende von etwas, eine Grenze darstellen – widmet sich die Ausstellung den Phantasmen und Repräsentationen, der Unweg sam keit und scheinbaren Beherrschbarkeit, den Imaginationen und (Geo) Politiken von Meer -, Land - und Luftraum.
Themen wie Kart ierungen, Raster und Navigation sind dabei ebenso von Relevanz wie Grenzen und Nationalismus, Handelswege und Piraterie, Migration und Tourismus, Ordnung und Zerstreuung. Gefragt wird nach den geopolitischen Machtverhältnissen, die durch Methoden der Vermessung, Berechnung, Einordnung und Abgrenzung hervorgebracht werden – und nach den Möglichkeiten und Formen der Verkehrung, Überschreitung oder Auflösung dieser an sich immer schon instabilen Verhältnissen.
Über die instabilen Beziehungen zwischen dem „gekerbten“, das heißt dem kartierten und vermaßten Raum der Sesshaften, dessen Archetyp das Land bzw. die Stadt darstellen, und dem „glatten“, unstrukturierten und offenen Raum der Nomaden, wie ihn das Meer repräsentiert, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari:
Der „glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt: der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt (Tausend Plateaus , Berlin 1993).
Den Rastern und Zäunen des „gekerbten Raums“ wohnt demzufolge eine latente Hinfälligkeit inne. So bringt auch die heutige Leidenschaft, unermüdlich Mauern zu errichten, nurmehr artifizielle und theatrale Grenzen hervor, die, wie Paul Virilio bemerkt hat, früher oder später wieder eingerissen werden. Die Theatralität dieser willkürlichen politischen Grenzen und Zäune spiegelt sich vielleicht nirgends so deutlich wieder wie in der jetzigen Krise Europas, wo täglich hektisch neue Grenzen errichtet werden.
Neben den kartografischen Ordnungen von Meer -, Land- und Luftraum – ihre Willkür und Wirkmächte – beschäftigt sich die Ausstellung auch mit den mythischen Figuren, die diese Ordnungen durchdringen.
So haben Kolonialismus, Industrialisierung und Globalisierung – mit ihrer massiven Ausdehnung des „gekerbten“ Raums – zahllose literarische Stoffe und imaginäre Figuren hervorgebracht, mit denen seit dem 16. Jahrhundert Themen wie Meer, Sturm, Insel, Schiffbruch, Monstren aller Art, fremde Welten und unendliche Weiten zwischen Horror, Faszination und Utopie verarbeitet werden : von Shakespeares Sturm über Herman Melvilles Moby Dick und Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meere bis zu James Camerons Abyss.
Eine besondere Rolle kommt dabei dem Schiff zu. Für Michel Foucault repräsentiert es – als Negation des Raums, als Ort ohne Ort, als Heterotopie par excellence – bekanntlich „nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlic hen Entwicklung ...“, sondern „auch das größte Reservoir für die Phantasie“ (Andere Räume, Leipzig 1991).
Die Ausstellung sucht diese Gegenorte – die paradoxen Räume der Löcher, Meere oder Schiffe auf. Es geht um die Erfindung anderer Karten, um eine Neuaufteilung des Raums, die – ob zu Wasser, Land oder Luft – den unvorhersehbaren Routen der Piratenschiffe folgen. Die Gegensätze von Land, Meer und Luftraum sollen dabei gewissermaßen ästhetisch ausgehöhlt und durchlöchert werden.
Neben künstlerischen Arbeiten der 1960er Jahre bis heute, die Zeichnungen, Fotografie, Objekte und filmische Werke umfassen, zeigt die Ausst ellung auch eine Reihe von historischen Materialien aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Populärkultur.

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