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Kulturverein Zehntscheuer


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72108 Rottenburg am Neckar
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Sa, So 13.00-18.00 Uhr

Gudrun Bierski u.a.: Das Weltrettungsprojekt und andere neue Werke aus der Sammlung Prinzhorn

27.09.2009 - 08.11.2009
mit: Gudrun Bierski, Friedrich Boss, Alexandra Galinova, Sonja Gerstner, Dietrich Orth, Vanda Vieira-Schmidt Die Sammlung Prinzhorn an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg ist welt-berühmt für ihren historischen Fundus von Anstaltskunst aus den Jahrzehnten 1850-1930. Ihr Name geht zurück auf Hans Prinzhorn (1886-1933), einen Kunsthistoriker und Psychiater, der 1919-21 als Assistenzarzt der Klinik einen Großteil dieser Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Skulpturen und Textilien aus ganz Deutschland zusammengetragen hat. Zu seiner Zeit waren es bereits ca. 5.000 Werke von ca. 450 Anstaltsinsassen. 1922 erschien Prinzhorns Studie darüber, „Bildnerei der Geisteskranken“, ein Buch, das vor allem bei Künstlern Furore machte. In der Nazi-Zeit missbraucht als Vergleichsmaterial für die Wanderausstellung „Entartete ‚Kunst’“, war die Sammlung nach 1945 lange vergessen. Erst die Ausstellung „Die Prinzhornsammlung“, 1980 in vielen deutschen Städten zu sehen, machte sie erneut bekannt. Seitdem kommen auch wieder Werke hinzu, von Menschen, die Erfahrung mit psychischer Krise oder mit Drogen gemacht haben, vor allem als Geschenke oder Dauerleihgaben. Bis zur Eröffnung eigener Museumsräume 2001 waren es schon ca. 11.000, von ca. 120 Männern und Frauen. Heute ist das Wachstum moderater. Platzmangel zwingt zu stärkerer Auswahl. So hat sich der Fundus in den letzten Jahren nur um ca. 700 Werke vergrößert. Umfangreiche Werkkomplexe (wie das „Weltrettungsprojekt“ von Vanda Vieira-Schmidt) versucht die Sammlung an andere Institutionen zu vermitteln, auch um so genannter Outsider Art ein größeres Publikum zu erschließen. Beim Rottenburger Kulturverein Zehtnscheuer e.V. werden sechs Männer und Frauen mit Werken vorgestellt, die seit 2001 an die Sammlung Prinzhorn gegeben wurden. Es ist die zweite Ausstellung mit Neuzugängen des Museums an einem anderen Ort. Ob die Sammlung Prinzhorn weiterhin sammelt, fragen viele. Mancher sucht dabei nach einer Bleibe für Bilder und Objekte, die er selbst hütet: Werke von Menschen, die psychische Krisen durchlebt haben. In den Besitz durch Erwerb, Geschenk, Erbschaft oder zufälligen Fund gelangt, möchte er sie abgeben, weil sie seinen Kunstgeschmack verfehlen, der Platz nicht reicht oder der konservatorische Erhalt aufwendig ist. Zugleich möchte er sie gesichert wissen. Selten geht es bei der Übergabe an das Museum um Prestige oder Geld. Oft schenkt man oder gibt Dauerleihen. Trotz Raumnot und knapper Ressourcen nimmt die Sammlung Werke an, sofern sie Konventionen überschreiten, doch stets mit der Bitte um Hinweise auf die Entstehung und die Lebensgeschichte der Autorinnen und Autoren. Ein Beispiel: In Frankfurt am Main stirbt 2006 eine Achtzigjährige. Trotz einer Pflegerin ist ihre kleine Wohnung zugewuchert, eines der überfüllten Zimmer unbetretbar. Zwei Neffen sind die Erben, denken aber an eine Räumungsfirma. Dennoch melden sie sich in der Sammlung Prinzhorn: Die künstlerisch ausgebildete Tante hatte ihr Leben lang gemalt und gezeichnet – abseits, ohne öffentlichen Erfolg. Seit den 1970er Jahren benahm sie sich zunehmend sonderlich, später wurde sie als „schizophren“ diagnostiziert. Ein Ortstermin macht deutlich, dass hier einem eigenwilligen Lebenswerk die Vernichtung droht. Wir beschließen, eine erhebliche Anzahl ausgewählter Werke in Heidelberg zu sichern. Die dankbaren Erben ordnen Fotos und Papiere und verfassen eine Biographie. Damit ist eine Grundlage geschaffen zum Erforschen von Leben und Werk Gudrun Bierskis (1925-2006). Schon in den 1980er Jahren, als man die Sammlung mit großem Aufwand vor Verfall und Vergessen rettete, wurde sie erweitert. Dabei handelt es sich um viele Werke, die das Œuvre von Künstlern der Sammlung ergänzen, aufgestöbert in Krankenakten bei biographischen Recherchen in deutschen Klinikarchiven. Seit 2001 das Museum eröffnet ist, kommen vermehrt Anfragen der geschilderten Art, da es weltweit nur wenige Institutionen gibt, die Werken der so genannten Outsider Art Platz geben. Die Ausstellung gibt Einblick in das Wachsen der Sammlung Prinzhorn, das in jüngster Zeit atemberaubend ist. Zum historischen Fundus (1880-1935), der in sich geschlossen ist, gibt es Kontinuitäten. Bis heute entstehen an den Rändern unserer Gesellschaft künstlerische Werke, die provozierend anders sind als das, was in Galerien und Museen üblicherweise gezeigt wird, Werke, die uns von seelischer Traumatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung berichten – eine schöpferisch reiche visuelle Gegenkultur. Flucht in die Wolken Die Eltern von Sonja Gerstner (1952-1971) gehörten zur DDR-Elite. Sonja war Klassenbeste und künstlerisch begabt. Mit sechzehn geriet sie in eine psychische Krise. Sie musste über zwei Jahre stationär behandelt werden, ohne dass sich ihre seelische Verfassung nachhaltig stabilisierte. Mit ihrer Umwelt kam Gerstner immer schlechter zurecht, sackte in der Schule ab, flog durch die Schauspielprüfung, litt unter der Ehekrise der Eltern. Dagegen schrieb sie Tagebücher, Songs und Gedichte, und sie malte, beeindruckende Bilder einer phantasiereichen Innenwelt. 1970 wurde sie aus stationärer Behandlung entlassen und zog in eine eigene Wohnung. Aber sie fühlte sich ungeliebt und allein gelassen und nahm sich 1971 das Leben. Die Eltern hatten schon früh mit den Ärzten über Behandlungsmethoden gestritten, verzweifelt in ihrer Ohnmacht. Nach dem Tod der Tochter schrieb die Mutter, Sibylle Gerstner, unter Pseudonym ein Buch über das Leben ihres Kindes. Mit farbigen Re¬produktionen vieler Bilder Sonjas erschien es unter dem Titel „Flucht in die Wolken“, 1981 in der DDR, 1982 in der BRD. Ein Bestseller. Ausstellungen der Bilder und Dokumente folgten. Geheime Codes Gudrun Bierski (1925-2006) wuchs in Mährisch-Ostrau auf. Ein Kunststudium, 1944 in Wien begonnen, konnte sie, nach Flucht und Übersiedlung, erst 1947-51 an der Karlsruher Akademie abschließen. Damals bereits fielen irrationale Schuldgefühle auf. Aufsehen erregte das Überreichen einer Blume an einen Pfarrer während der Predigt. Mit ihren künstlerischen Werken hatte Bierski keinen Erfolg. 1955 zog sie nach Frankfurt am Main, um als technische Zeichnerin zu arbeiten. 1969 zwang sie eine nervliche Krise in die Unselbständigkeit. Bei Eltern und Schwestern widmete sie sich mehr denn je ihrer Kunst. Neben Gemälden, für die sie Pappmaché-Rahmen fertigte, entstanden Teppiche, deren Vielfarbigkeit selbst erdachten Codes folgt. Bierski benahm sich zunehmend exzentrisch, badete einmal gar bekleidet im Main. In ihre Sprache kamen formelhafte Floskeln. Seit 1990 malte sie kleine tachistische Gemälde und nähte für diese und andere Werke Stoffhüllen. Da Ende der 90er ihre Wohnung zuwucherte und die Amtsärztin Schizophrenie diagnostizierte, wurde eine Betreuerin eingesetzt. In den letzten Jahren notierte Bierski Substantive und Reihen einfacher Zahlen in Kladden und Heften. Auch in Romane schrieb sie Wörter, oder sie überarbeitete jeweils eine Seite mit Schraffuren. Erst nach ihrem Tod entdeckten die Erben den Umfang des Œuvres. Das meiste überließen sie der Sammlung Prinzhorn. Päckchen für die Nachwelt: Chronik der Einsamkeit Irgendwann in seinem Leben verschrieb sich der schwäbische Gartenbauinspektor Friedrich Boss (1898-1977) einer privaten Gedächtnisarbeit. Tausende von Blättern füllte er mit täglichen Aufzeichnungen, Notizen, Listen und aufgeklebten Ausschnitten aus Zeitungen; in gewissem Rhythmus bündelte Boss die Papiere, wickelte sie in braunes oder blaues Packpapier, verschnürte alles, siegelte den Knoten mit rotem Lack und notierte die Daten des Entstehungszeitraumes. Innerhalb von etwa 20 Jahren stapelte er über 200 Päckchen aufeinander, manche auch zu dicken Paketen verschnürt. Adressaten haben die Aufzeichnungen nicht. Sie tragen sorgsam ein postalisches Kleid und können doch nicht fort. Aus einer privaten Katastrophe heraus verschloss sich Friedrich Boss. Ihm blieb die Textarbeit, die er versiegelte wie eine Flaschenpost – und aufschichtete zu einer Chronik der Einsamkeit. Das in den 50er Jahren begonnene Werk ihres Onkels schenkte Irmgard Lang im Jahr 2003. Kunsttherapie für den Betrachter Der 1956 geborene Dietrich Orth hatte gerade das Abitur an einem hessischen Internat mit besten Noten bestanden, als er in eine psychische Krise geriet. Als Patient der Psychiatrischen Klinik Kauf¬beuren begann er 1985 unter Anleitung des Künst¬lers Johannes Lindner zu zeichnen und zu malen. Die Bilder unterscheiden sich von vielen Werken der „Outsider Art“. Sie sind nach Form und Inhalt we¬der expressiv noch „naiv“ oder „primitiv“. Orth ging vielmehr konzeptuell vor. Eigene Symbolik und re¬duzierte Darstellungsmodi reflektieren sein Erleben, begleitet von lapidaren und ironischen Kommenta¬ren. Dabei vermittelt seine künstlerische Strategie zwischen Selbstvergewisserung und therapeuti¬scher Handlungsanweisung für den Betrachter. Es sollen Erfahrungen psychophysischen Gleichge¬wichts vermittelt und angeregt werden. Oft wird konkret wie metaphorisch die Sicherheit des Auf¬tretens thematisiert. Orths Bilder stiegen im Kunstmarkt der 90er Jahren kometenhaft auf. Vertreten von Galerien in Köln und New York rissen sich Sammler darum. Wichtige Kunstzeitschriften verglichen sie mit frühen Werken von Bruce Nauman. In den letzten Jahren wurde es still um Dietrich Orth, zumal er nicht mehr künstlerisch ar¬beitet. Seine Eltern übergaben die in Kauf¬beuren verblie-benen Werke im Jahr 2007 als Dau¬erleihgabe. Weltrettungsprojekt Im September 2005 meldete sich eine Mitarbeiterin der „Perspektive Zehlendorf e.V.“ bei der Sammlung Prinzhorn. Eine von ihr betreute Wohngruppe ehemaliger PsychiatriepatientInnen musste Ende des Jahres in eine kleinere Woh¬nung umziehen. Die größte Sorge galt dem Werk von Vanda Vieira-Schmidt (*1949), die seit zehn Jahren obzessiv zeichnete. Über 500.000 ihrer Blätter waren im Keller aufgestapelt – allzu viele, um sie beim Umzug mitzunehmen. Sie drohten weggeworfen zu werden. Eine Sichtung machte schnell klar, dass dieses ungeheure Werk bewahrt werden muss. So kam es, zusammen mit einem Tisch und einem Stuhl, nach Heidelberg. Vieira-Schmidt, auf Madeira aufgewachsen, aber seit ihrem 18ten Lebensjahr wieder in ihrer Geburtsstadt Berlin, zeichnet gegen das Böse in der Welt. Sie richtet Ihre Energien gegen Menschen, die, dem Teufel verbündet, mit Hilfe von Uran-Geräten anderen Stromschläge versetzen und sogar töten, indem sie Herzen oder Venen platzen lassen. Sie wehrt Flü¬che mit Gegenflüchen ab und sorgt für den Weltfrieden. So haben ihre Blätter auch Wert für das Militär. Nur scheinbar handelt es sich um Schwarz-Weiß-Zeichnungen, im Grunde sind es farbige Malereien. Aber nur Vieira-Schmidt oder ein „Trape“-Computer, wie er angeblich im deutschen Verteidigungsministerium steht, können sie als solche erkennen und dadurch nutzen. Die meisten der „Malereien“ folgen einfachen Grundmustern, zeigen aber schon hierbei eine erstaunliche Sicherheit der Blattgestaltung, wie sie nur durch lange Übung zu erreichen ist. Beim Wiederaufbau der „Papierbatterie“ kamen zudem immer wieder komplexere Blätter zu Tage sowie auf ein Madeira-Prospekt und ein faszinierendes kleines Prosa-Stück. Die Zufallsfunde machen gespannt darauf, was noch alles in diesen Sedimenten der Sorge zu finden ist. Die Sammlung Prinzhorn wird nicht der endgültige Ort für diese überwältigende künstlerische Reaktion auf das Gefühl permanenter Bedrohung sein, zumal das Werk sie selbst vor Platzprobleme stellt. Allein eine dauerhafte öffentliche Präsentation scheint angemessen. Stellen doch Reaktionen auf eine verbreitete Paranoia, die in ihrer Maßlosigkeit weit gefährlicher sind, heute die eigentliche Bedrohung des Weltfriedens dar. Inzwischen hat sich das Militärhistorische Museum in Dresden, das 2010 eröffnen wird, bereit erklärt, das „Weltrettungsprojekt“ zu übernehmen. Späte Verarbeitung Die 1936 in Breslau geborene Künstlerin, die sich das Pseudonym Alexandra Galinova gegeben hat, überließ der Sammlung Prinzhorn 2008 teils als Schenkung, teils als Dauerleihgabe eine Reihe von Gemälden und Arbeiten auf Papier. Es ist jener Teil ihres Œuvres, in dem sie Angst, Schrecken und Trauer verarbeitet, Emotionen, die sie seit den späten 50er Jahren verfolgen. Lange war ihr deren eigentlicher Ursprung unklar. Eine Krebserkrankung 1980 zwang sie dazu, ihr Leben zu ergründen. Sie begann einer Psychiatrie-Erfahrung im Jahr 1959 nachzuforschen, von der sie nicht mehr wusste. Durch Aufzeichnungen ihres längst verstorbenen Vaters, die sie 1997 in einem Kalender aus jenem Jahr entdeckte, brach das erlittene Trauma mit aller Gewalt auf und führte zu einer jahrelangen malerischen Auseinandersetzung mit dem Erlittenen. Die Malerei half Galinova seitdem, das Erschütternde ihrer Erkenntnisse und die neuerliche Konfrontation mit den damaligen Ereignissen zu verarbeiten. Einen Großteil dieser Bilder gab sie 2008 an die Sammlung Prinzhorn. Neben diesen autobiographischen Werken hat sie auch Heiteres gemalt, vor allem Bilder nach Grimms Märchen, nach klassischen griechischen Mythen und nach biblischen Erzählungen.

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