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Meine Mutter - heimatlos

Deutschland, 2023, Dokumentarfilm, ca. 94 min., FSK: ab Jahre - im Kino seit 24.01.2024

Am frühen Morgen erhielt ich einen Anruf aus dem Pflegeheim: "Ihre Mutter ist heute Nacht verstorben." Als letzter noch lebender Angehöriger der Familie begab ich mich auf den Weg. Vor einigen Monaten hatte ich meine Mutter auf dringenden ärztlichen Rat und gegen ihren Widerstand in ein Pflegeheim in der Stadt gebracht. Sie hatte 60 Jahre lang in einer kleinen Sozialwohnung im Plattenbau gewohnt, die nach dem Zweiten Weltkrieg für Flüchtlinge und Heimatvertriebene errichtet wurde. Mit einer Rente von knapp 700 EUR hatte sie ihr Arbeitsleben als Akkordarbeiterin in einer Spielzeugfabrik verbracht. Die Hoffnung meiner Mutter auf eine Rückkehr in die eigene Wohnung hatte sich nun endgültig zerschlagen. Ihre Wohnung musste geräumt werden, und mein Plan war es, dies behutsam zu tun. Zu viele Erinnerungen tauchten auf. Es war ein Abschied. Da waren Dinge, zu denen ich einen seltsam nahen Bezug hatte: die frivole Katze, ein alter Krug - mit dem ich als Kind einmal in der Woche Bier für Großmutter holen musste. Und dann waren da die Dinge, über die meine Mutter Botschaften sandte: ihr Tagebuch. Am Beginn des Tagebuchs stand: "Mein ganzes Leben während der Verheiratung war ein ewiges Hin und Her, verwirrend und aufregend. Mit der Vertreibung und dem Verlust der Heimat begann es. Ich hätte nicht heiraten sollen, es war mein größter Fehler..." Die Geschichte meiner Mutter steht exemplarisch für die vier Millionen deutschstämmigen Bürger*innen der Tschechischen Republik, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. In zwei Koffern befanden sich Dokumente aus längst vergangenen Zeiten und Fotoalben mit Bildern, die viel erzählen können. Doch wie lassen sich die Geschichten hinter den Dokumenten und Fotos entschlüsseln? Welch ein Glück! Das handgeschriebene Kochbuch von Großmutter. Geheimrezepte der böhmischen Kochkunst. Ich erinnerte mich an ein langes Gespräch mit meiner Mutter am Küchentisch. Ich hatte es während meines weihnachtlichen Besuchs vor 12 Jahren spontan mit einer kleinen Kamera aufgezeichnet. War mir damals bewusst, wie schwierig es bald sein würde, authentische Zeitzeugenberichte zu erhalten? Ich, der wie besessen verstehen wollte, wie diese verletzende Lieblosigkeit, diese Selbstbezogenheit, diese Ängste, Leere und Abgestumpftheit, diese Rücksichtslosigkeit, dieses Schweigen und die erschauernde Gefühlskälte meiner Eltern möglich werden konnten? Diese Frage beschäftigt mich ein ganzes Leben. Die Arbeit an diesem Film hilft mir, mich besser zu verstehen. Mit den gefundenen Dokumenten, Fotos und den alten Videos begebe ich mich auf eine Reise in meine Familiengeschichte. Eine Filmerzählung von Horst Herz. Ein Versuch, die Geschichte meiner Familie zu verstehen, gewidmet einer Generation von Frauen, die ausufernden Nationalismus, Rassismus und die Folgen von Krieg und Vertreibung bewältigen mussten. (Text: Horst Herz)

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Am frühen Morgen erhielt ich einen Anruf aus dem Pflegeheim: "Ihre Mutter ist heute Nacht verstorben." Als letzter noch lebender Angehöriger der Familie begab ich mich auf den Weg. Vor einigen Monaten hatte ich meine Mutter auf dringenden ärztlichen Rat und gegen ihren Widerstand in ein Pflegeheim in der Stadt gebracht. Sie hatte 60 Jahre lang in einer kleinen Sozialwohnung im Plattenbau gewohnt, die nach dem Zweiten Weltkrieg für Flüchtlinge und Heimatvertriebene errichtet wurde. Mit einer Rente von knapp 700 EUR hatte sie ihr Arbeitsleben als Akkordarbeiterin in einer Spielzeugfabrik verbracht. Die Hoffnung meiner Mutter auf eine Rückkehr in die eigene Wohnung hatte sich nun endgültig zerschlagen. Ihre Wohnung musste geräumt werden, und mein Plan war es, dies behutsam zu tun. Zu viele Erinnerungen tauchten auf. Es war ein Abschied. Da waren Dinge, zu denen ich einen seltsam nahen Bezug hatte: die frivole Katze, ein alter Krug - mit dem ich als Kind einmal in der Woche Bier für Großmutter holen musste. Und dann waren da die Dinge, über die meine Mutter Botschaften sandte: ihr Tagebuch. Am Beginn des Tagebuchs stand: "Mein ganzes Leben während der Verheiratung war ein ewiges Hin und Her, verwirrend und aufregend. Mit der Vertreibung und dem Verlust der Heimat begann es. Ich hätte nicht heiraten sollen, es war mein größter Fehler..." Die Geschichte meiner Mutter steht exemplarisch für die vier Millionen deutschstämmigen Bürger*innen der Tschechischen Republik, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. In zwei Koffern befanden sich Dokumente aus längst vergangenen Zeiten und Fotoalben mit Bildern, die viel erzählen können. Doch wie lassen sich die Geschichten hinter den Dokumenten und Fotos entschlüsseln? Welch ein Glück! Das handgeschriebene Kochbuch von Großmutter. Geheimrezepte der böhmischen Kochkunst. Ich erinnerte mich an ein langes Gespräch mit meiner Mutter am Küchentisch. Ich hatte es während meines weihnachtlichen Besuchs vor 12 Jahren spontan mit einer kleinen Kamera aufgezeichnet. War mir damals bewusst, wie schwierig es bald sein würde, authentische Zeitzeugenberichte zu erhalten? Ich, der wie besessen verstehen wollte, wie diese verletzende Lieblosigkeit, diese Selbstbezogenheit, diese Ängste, Leere und Abgestumpftheit, diese Rücksichtslosigkeit, dieses Schweigen und die erschauernde Gefühlskälte meiner Eltern möglich werden konnten? Diese Frage beschäftigt mich ein ganzes Leben. Die Arbeit an diesem Film hilft mir, mich besser zu verstehen. Mit den gefundenen Dokumenten, Fotos und den alten Videos begebe ich mich auf eine Reise in meine Familiengeschichte. Eine Filmerzählung von Horst Herz. Ein Versuch, die Geschichte meiner Familie zu verstehen, gewidmet einer Generation von Frauen, die ausufernden Nationalismus, Rassismus und die Folgen von Krieg und Vertreibung bewältigen mussten. (Text: Horst Herz)
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